Alltagsgeschichten: die Autonomiephase des Kleinkindes
Die Tage werden länger. Nicht nur im meteorologischen Sinne, sondern auch in unserem Alltagsleben. Vorbei sind die Zeiten des Mittagsschläfchens. Von nun an dominiert die geballte Energie, die Kraft und Ausdauer eines Kleinkindes, und zwar von früh bis spät. Durchwachsen von einigen wenigen Einbrüchen am Nachmittag, die daran erinnern, dass ein Anflug von Müdigkeit von Seiten des Goldjungen (und auch meinerseits!) nicht aufzuhalten und zu übersehen ist. “Aber probieren möchte ich es dennoch, vielleicht klappt es dieses Mal ja!” so mein -aber nicht sein- Vorhaben zur Mittagszeit, das jedoch aufgrund vehementen Protests und erneut zur fortgeschrittenen Nachmittagsstunde flugs verworfen wird.
Der simple Grund: der Goldjunge hält uns sonst bis in die späten Abendstunden auf Trab! Und das gilt es sehnlichst zu vermeiden, denn auch die nach Freiraum und Erholung lechzenden Mama (und natürlich auf Papa, der gerade vom Dienst nach Hause kommt, und dort mit riesigem Getöse und Pomp empfangen wird) brauchen mal eine Auszeit, auch wenn der Alltag mit Kleinkind unglaublich bereichernd ist und das Mamaherz immer wieder total unvorhergesehen erstrahlen lässt. Es sind diese einzigartigen Momente, in denen das Kinderherz lacht, in denen das Einfache eine derart große Magie und Fröhlichkeit auslöst, die wir Erwachsenen im Alltag oft zu vergessen scheinen. Vieles ist für uns im Laufe der Jahre weg vom Kind hin zum Erwachsensein zu etwas Notwendigem, Alltäglichen geworden, und hat so die Magie des Einfachen verdrängt. Die Kinder sehen das anders.
Kinder leben im Hier und Jetzt
eine Phrase, die ich mir genau dann in Erinnerung rufe, wenn sich alle Segel urplötzlich und unvorhergesehen in Richtung “Autonomie” wenden. Denn wie so vieles im Leben eines Kleinkindes ist auch für mich als bald 3-fach Mama meist nicht immer vorhersehbar, wann mit emotionalen Zuständen von Seiten des Kleinkindes zu rechnen ist. Oft ist es auch mit größter Anstrengung und Empathie für mich nicht nachvollziehbar, warum es um alles in der Welt gerade JETZT und ausgerechnet HIER an wohl unvorteilhaftestem Ort und Stelle zu einem emotionalen Ausbruch kommt. Und genau das ist es, was uns unweigerlich in Alarmbereitschaft versetzt.
Wut und Ärger
Fakt ist: der Goldjunge ist wütend. Er muss sich (aus welchen Gründen auch immer) gewaltig ärgern. Und ja, auch dessen bin ich mir bewusst: an dieser Stelle hat Einreden und Besänftigen schon gar keinen Sinn. Es bewirkt nämlich nur das Gegenteil und potenziert sogar die Wut. Nun gut, geben wir der aufgestauten Energie einen Raum, in der Hoffnung, sie möge dann auch wieder abklingen, während wir bestenfalls gelassen die momentane Situation hinnehmen, und uns abwartend verhalten, und vielleicht sogar abwägen: abwarten oder doch lieber die Flucht ergreifen? Wir werden in Kürze die Entscheidung auf uns nehmen und zu Gunsten des Kindes auf diese unvermeidliche Situation reagieren. Noch verhalten wir uns abwartend.
Wenn da nicht die Passanten wären, die sich ob des Platzmangels an uns vorbeischlängeln, und so mancher unter ihnen uns eines finsteren Blickes würdigt, ob der Tatsache, dass wir gerade den Eingang des Baumarktes versperren. Und ja! Auch für in ihrer Routine gestörte Passanten habe ich ein Fünkchen Verständnis übrig, so komme ich zu dem Entschluss, bevor ich eine Meldung schiebe.
Genau an dieser Stelle ziehe ich meine Phrase zu Rate, mein persönlicher Ankersatz, der mich daran erinnert, in einer stressbehafteten Situation nur ja nicht auf meinen ach-so-ausgleichenden Atmen zu vergessen, der in diesen Momenten gerne mal auf der Strecke bleibt. Kinder leben im Hier und Jetzt.Was so viel heißt wie: die Emotionen müssen JETZT raus, nicht früher oder später. Wut und Ärger sind die natürlichen Feinde des Aufschubes. So weit, so klar. Schweißperlen steigen mir auf die Stirn, da haben sogar die Minusgrade keine Chance, temperaturausgleichend zu wirken, und ich bin gerade dabei, meine Winterjacke zu öffnen, als mir die dicke Wollhabe mit dem Riesenbommel ins Gesicht rutscht. Ich frage mich, was um Himmels Willen der Auslöser sein konnte für diesen Zustand des “Nicht-weiter-kommens”. Das Einkaufswagerl, indem er grundsätzlich liebend gerne mitfährt, lehnt er strikt ab, genauso wie das Kinder Einkaufswagerl zum selber Schieben, und auch das Weitergehen wird vehement abgelehnt. Wir befinden uns sozusagen im Stehstreik. Und auf eine Antwort, was er denn jetzt gerne hätte, kann ich lange warten.
Während ich vor mich hin sinniere, und versuche, mich auf meinen Atem zu konzentrieren (und so nebenbei meine Jacke zu öffnen,meine deplatzierte Mütze und meine Umstandsleggings, die inzwischen die Beine hochgewandert ist und nun auch noch meine nackten Unterbeine freigibt, zurechtzurücken) ist der Goldjunge außer sich. Er kreischt und windet sich inzwischen auf dem kalten Boden vor dem Eingang des heute ach so gut besuchten Baumarktes zwischen Weihnachtsgestecken im Abverkauf rechterhand und Infrarot Saunakabine linkerhand. Die Schiebetüren gehen auf und zu. Ich komme zu dem Entschluss: die weiße Wandfarbe muss wohl oder übel warten, und ich verschiebe gedanklich mein nächstes DIY Projekt auf die ferne Zukunft. Mein einziger Gedanke:
Nur weg von hier!
Ehe mir die Flucht oder besser gesagt ein Ortswechsel als einzige rationale Option erscheint, aus dieser misslichen Lage zu entkommen, nähert sich eine betagte Frau dem kleinen Mann, der sich inzwischen zwar von dem Boden aufgerichtet hat, aber wie wild mit Händen und Füßen zappelt, begleitet von lautstarkem Protest und dicken Krokodilstränen. “Jo wos is denn do los? Wos is denn des?” so die entsetzte Dame entrüstet. Für mich DAS Signal, um den aufgebrachten Goldjungen zu schnappen und in Richtung Auto aufzubrechen. Doch wo ist denn jetzt bloß der Autoschlüssel? Hatte ich ihn nicht in die Jackentasche gegeben? Die Dame nutzt den kurzen Moment meines Sinnierens und beugt sich zu dem noch immer tobenden Goldjungen hinunter: “Host du dir leicht weh getan? Is da wos passiert!?Aber so schreien!” Ich ernte einen misstrauischen, und sie erntet meinen genervten Blick.
Alles ist gut
So mein Credo für den heutigen Tag. Und rückblickend gesehen war es das dann auch, und zwar viel schneller als gedacht. Zurück im Auto (der Autoschlüssel hatte sich an meiner Jacke verfangen) sind wir noch glatt dem Passantenverkehr entkommen, und es kehrte allmählich Ruhe ein. Vergnügt und mit einem Lächeln im Gesicht bestaunte der Goldjunge Minuten nach dem Vorfall einen vorbeifahrenden Traktor, und zu guter letzt kam uns auch noch ein Bagger entgegen.
Die Aufregung schien vergessen, und als ich ihn im Nachhinein fragte, was ihn derart wütend machte, blickte ich in ein freudestrahlendes Gesicht. “Mama tragen”, so seine Antwort.